Anobisität vom April, 2016

Das Parfum – Teil 1

01.04.2016

DAS PARFUM. – Die Geschichte eines Mörders von Patrick Süskind

Diogenes Taschenbuch, 1994

Eine anobische Interpretation in vier Teilen

Erster Teil

 

Vorbemerkungen

Als Sekundärtitel des Romans schlage ich „Der gescheiterte Aufbau einer Identität“ vor. Ich werde den zentralen Textteil, der sich auf das Fehlen des Eigengeruchs und der Duftwirkung bezieht, vom übrigen Text zunächst isolieren.

Diese Teilinterpretation wird dann in die Ausbildung zum Parfumeur und in die Arbeit als Naturtalent mit dem höchsten Selbstanspruch auf der Grundlage der Persönlichkeitsstruktur und der kriminellen Energie des Mörders Jean-Baptiste Grenouille eingebettet.

Zwei Fragen bezüglich des Namens des Mörders bleiben offen: 1. Wieweit soll mit seinem Vornamen auf (s)eine Vorläuferfunktion hingedeutet werden? 2. Soll der gewählte Familienname auf (s)eine „Froschperspektive“ in Permanenz bis zum vollendeten kannibalischen Sterbeakt hingewiesen werden?

Der Roman DAS PARFUM ist inhaltlich und in der literarischen Gestaltung eine vollendete Ablaufgestalt mit Extremisierungen, deren Spannung und zweigliedrige Klimax zunächst in den Kapiteln 49 der zweiten Hälfte und 50 und dann deren eigentlichen Höhepunkt im letzten Kapitel liegen. – In Klammern werden die Seitenangaben des Taschenbuches im Dünndruck und die der Stufen der Kairos-Skala im Fettdruck angegeben.

 

Voraussetzungen

Ich setze auf die Basis der Anobisität eine Kombination von einer theo- und psychologischen Interpretation. Sie soll die Massstäbe bilden, wieweit der Text des „Kriminalromans“ sich zu den theo- und psychologischen Entwürfen verhält.

Da der Autor P. S.,  sprachlich in die Nähe sowohl alt- und neutestamentlicher als auch religiöser Formulierungen kommt, fühle ich mich als Theologe animiert, Basisaussagen des Textes an qualifizierten theologischen Aussagen als deren Massstäbe zu messen.

 

Massstäbe

Ich nenne a. drei theologische und b. drei psychologische Messlatten.

ad a. Menschwerdung (Inkarnation), Liebe (Agape nach Johannesevangelium), Abendmahl;

ad b. Identität, Ambivalenz, Persönlichkeitsstruktur der Hauptfigur J.-.B.G.

Die beiden Punkte a und b greifen ineinander.

Diese genannten zwei Massstabsequenzen bilden den Rahmen meines Interpretationsvorschlags. Der Autor P. S. bezeugt hier seine Begabung, eine literarische Gestalt über das übliche Krimi-Label hinaus in Richtung der höchsten Eigenständigkeit für den Gestaltenen Gestalter zu entwerfen; und das auch noch im Rahmen einer Mordserie!

 

Einzelinterpretation

Der Protagonist J.-B.G. setzt sein Können und seine Lebenskraft für den Aufbau eines Eigengeruchs, den er auch selber wahrnehmen kann, ein. Obwohl ihm seine Lebensarbeitszeit und geniale Selbstständigkeit zur Verfügung stehen, misslingt ihm die Nachbesserung dieser angeborenen Behinderung. Der Zugang zu ihm selbst kann ihm nur versagt bleiben. Selbstverwirklichung als Wesensgleichheit baut sich nur in seinem Traum auf. Trotz Frustration vermag er, energetisch ein neues Ziel zu erreichen: Verachtung der Menschen und Todeswunsch. Menschwerdung (Fleischwerdung bzw. Inkarnation) wie alle Menschen sein wollen und vollkommene Gleichheit mit allen Menschen (Identität) als eine imperative Denk- und Handlungsausrichtung führt hier in eine Sackgasse.

Das Parfum – Teil 2

01.04.2016

Das Parfum

Zweiter Teil

Das theologische Konzept der Menschwerdung bzw. der Inkarnation Jesus Christus ist ein indikatives Modell. Am Kreuz spricht der johanneische Christus: „Es ist vollbracht.“ Damit wird theologisch seine Menschwerdung und psychologisch seine Wesensgleichheit ausgesprochen.

Zwischen beiden literarischen Angeboten besteht eine deutliche anobische Differenz. Während J.-B.G. imperativisch seine bleibende physiologiche Fehlausstattung (2) aufheben will (4), identifiziert sich der johanneische Jesus indikativisch mit dem Menschlichsten überhaupt (6).

Anobisch: 1. Die Kairos – Stufen 2 plus 4 = 6 : 2 = 3 = ausserhalb der Zufriedenstellung.      2. Die Kairos-Stufe 6 zeigt die eigentliche Qualität der Übereinstimmung an. In der Intentionalitätseinheit zeigt sich bei J.-B.G. ein Spannungsbogen von 3 Stufen, zu dem johanneischen Jesus – also von 3 bis 6 – ein Bogen von 4 Stufen. Bezüglich der Immanenten Dialektik steht J.-B.G. auf der Stufe b. sich selbst respektierend gegenüber, während die Johannesvorlage auf der Stufe c. einen erreichbaren Endzustand des vollkommenen Mitsicheinsseins angibt.

Der angeborene physische Mangel J.-B.G. versetzt ihn in höchste Motivation, eine eigene Duftmarke in weltweiter Exklusivität zu kreieren. Durch die Fähigkeit seiner olfaktorischen Hochbegabung der Geruchsdiskriminierung, der Wahrnehmung und Kombinationen von Düften sowie deren lebenslange Bewahrung gelingt ihm ein einzigartiger Exklusivduft. Dieses höchste parfumtechnische Ergebnis stellt sich für ihn selbst allerdings nur als seine eigene Duftprothese heraus, die jedoch einerseits intensive Liebe der Mitmenschen untereinander und andererseits die ihm zugedachte ermöglicht. Selbst der Vater des letzten Mordopfers, Richie, bittet um Verzeihung und adoptiert ihn (6). J.-B.G. gerechte Strafe unterbleibt. Ihm ist in der Zwischenzeit bewusst geworden, dass der Duft nur eine Riechhilfe ist. Jedoch ein Eigengeruch fehlt ihm und somit auch ein Zugang zu den Mitmenschen; er hasst sie (2). Hier liegt eine Ambivalenz vor, die auch im weiteren Verlauf der dramatischen Situation festbleibt. Auch bei dieser Teilinterpretation wie schon bei dem obigen Thema Identität bleiben die Ergebnisse der Kairos – Stufen, der Intentionalitätseinheit und der Immanenten Dialektik etwa konstant.

Der johanneische Begriff der Agape (Liebe) umfasst die Gegenseitigkeit in einem dialektischem Verhältnis (6).

J.-B.G. verlässt als freier Mann den Ort seiner unterlassenen Hinrichtung. Die dramatische Zuspitzung findet am Ort seiner Geburt statt. Hier verströmt er aus endgültiger Frustration die grösste Menge seines Duftmantels bei einer Gruppe der untersten Unterschicht, die ihn „aus Liebe“ (so im Text) in gieriger Rudelformation kannibalisch verzehrt. Halten sie Abendmahl?

Bei aller Nähe zu dem angedachten Abendmahl fehlen deutlich zwei Elemente. Die neutestamentlichen Überlieferungsstränge des hellenistisch konzipierten Abendmahls sind untereinander zu disparat, um sie auf einen Nenner zu bringen. Jedoch zwei Grundzüge haben alle Texte gemeinsam: Sie sind einerseits als ein brüderliches Gemeinschaftsmahl aufgebaut und andererseits sind sie auf die Zukunft ausgerichtet. Beide Merkmale fehlen in dem Pariser Vorgang.

Auch die Selbsthingabe J.-B.G. an die Gruppe geschieht auf zwei Ebenen. Die Gruppe reagiert auf die Duftprothese und kannibalisiert den Träger des Duftstoffes. Die Pariser und die Grasser Gruppe gehen in gleicher Weise auf eine chemische Wirkung ein.

Auch an diesen Punkten klaffen die anobischen Einordnungen zwischen der literarischen Vorlage J.-B.G. und dem angesetzten Massstab Abendmahl deutlich auseinander.

Das Parfum – Teil 3

01.04.2016

Das Parfum

Dritter Teil

Der Existenzentwurf J.-B.G. basiert sowohl auf einer lebenslangen fast durchgängigen sozialen Isolation als auch in dem engagierten Einzelkampf gegen seine eigene Natur und ihrer Überwindung mit dem Ziel der Selbstverwirklichung (306 bis 308). Die Persönlichkeitsstruktur dieser zentralen Romanfigur zeichnet sich durch die Kombination Introversion und Zwanghaftigkeit aus. Darauf kann er einerseits seine äussere soziale Unterordnung und andererseits seine Stellung ausserhalb sozial-ethischer Codizes aufbauen. Somit verbleibt er permanent in der „Froschperspektive“. Das Zielbewusstsein des Protagonisten, einen sozialen Anschluss herzustellen, ist trotz einer inneren Krise, selbstkritischer Beurteilung und durch eine Insidersprache zementiert (305). Jedoch seine Erkenntnis, die Identität zu verfehlen und diese nur künstlich aufbauen zu können und sich zielpunktuell mit göttlichen Prädikaten (161 bis 163; 197f; 304f; 316) selbst aufzubauen, zeugt von Flexibilität, Durchhaltevermögen und Zielbewusstsein auf der Basis dieser beiden Persönlichkeitsformen (244). Seine Mordserie (246 bis 281) als raffiniertes Engagement ausgeführt und nur als Mittel zur Duftherstellung eingesetzt wird durch eine in sich geschlossene Indizienkette aufgedeckt. J.-B.G. wird verhaftet und inhaftiert. Sein Todesurteil nimmt er als gegeben hin. Jedoch wählt er nach seiner Freilassung selbstständig anderenorts sein Sterben und Tot-Sein. Dem Henker ausgeliefert, in der Hoffnung getötet zu werden, von der Menge einschliesslich des Vaters des letzten Mordopfers in Anbetung geliebt, wird er dem Weiterleben übergeben; was ihm missfällt. Die Liebe der Menge zu ihm wird fehlgeleitet (2), ebenso sein Ekel und Hass für Menschen (2). J.-B.G. bleibt von seiner Geburts- bis zu seiner Sterbestunde von den Menschen emotional getrennt. Selbst das Adoptionsangebot des Vaters des letzten Mordopfers nimmt er nur äusserlich nickend jedoch schweigend mit einem andern Ziel an. In dem differenziert mehrschichtigen gescheiterten Existenzentwurf J.-B.G. liegt seine eigene Ambivalenz verborgen. Die Ambivalenz wurzelt in seiner Person: Er beglückt mit seinem handwerklichen Duftergebnis seine Mitmenschen, die sowohl sich untereinander als auch ihn selbst lieben. Ekel und Hass bleiben nach seinem Wunsch der Menge verborgen. Die Wirkung der bachanalen Liebe verbleibt bei den Mitmenschen in einem engumgrenzten Zeitbereich. Der Wirkung des hervorragenden Duftes und seines genialen Produzenten fehlt jegliche Art von Zukunft; die Wirkung ist verduftet (1). Das ist die eigentliche Katastrophe beiderseits: In dem ersten und zweiten Höhepunkt des Romans bleiben eigentlich die Menschen in Grasse wie in Paris einerseits und J.-B.G. andererseits jeweils in sich gefühlsmässig blockiert. Es bleibt in beiden Bereichen alles beim Alten. Die Mitmenschen bleiben was sie sind. Und J.-B.G. kann nur noch auf seinen selbstbestimmten Sterbeakt zugehen. Der Tötungsakt wird kannibalisch „aus Liebe“ (letzter Satz des Romans!) ausgeführt (-1).

Dem einzigartigen Duft fehlt die Nachhaltigkeit der Wirkung; dieser ist selbst restlos verschwendet worden. Das doppelte Projekt des Identitätsaufbaus – des Selbst- und Fremdriechens – musste scheitern. Zwischen der natürlichen pränatalen Mangelausstattung und der aussergewöhnlichen Hochbegabung blieb zwar eine extrem starke Differenz, die aber intensiv zusammengeschweisst war (191 bis 200). Damit hat J.-B.G. die Perspektive eines neuen Existenzentwurfs völlig ausgeschlossen.

Tötung aus Liebe – Sterben und Tod, sich dem hingeben und Liebe fallen literarisch zeitlich ineinander; jegliche Nachhaltigkeit aber fehlt.

Das Leitmotiv Liebe und Tod bringt als internationale Thematik sowohl eine weltliterarische (z.B. Romeo und Julia) als auch eine religiöse (Kreuzestod Jesu) und damit eine anthropologische Spannung.

In der neutestamentlichen Literatur stirbt Jesus „für uns“ bzw. „für euch“, während J.-B.G. sich isolierend tragisch für sich selbst stirbt.

Das Parfum – Teil 4

01.04.2016

Das Parfum

Vierter Teil

Schlussbemerkung

Mein Interpretationsvorschlag zeichnet sich durch eine doppelte anobische Auslegung aus: Zunächst wurden die Textteile des Romans aufeinander bezogen und danach wurden diese mit neutestamentlichen und theologischen Aussagen verknüpft.

Inhaltlich und literarisch ist der Roman eine vollendete Ablaufgestalt.

Die Herausarbeitung der anobischen – und damit anthropologischen – Differenzen zwischen der literarischen Vorlage des Protagonisten des Romans DAS PARFUM und den Massstäben dient zur Feststellung des eigenen Identiätsstandortes der Leser und Mitarbeiter dieses Textes. Die anobischen Methoden geben den Rahmen vor, wo sich der eigene aktuelle Identitätsstandort befindet und welche Möglichkeiten des gegenwärtigen bzw. der zukünftigen Identitätsentwicklung vorhanden sind.

Die Romangestalt baut sich durch eine dreifache Distanz auf: J.-B.G. ist selbstkritisch, kennt das verfehlte Ziel der Identität und beurteilt sein parfumtechnisches Produkt mit Abstand (243). Jedoch wenigstens sein Duftergebnis gehabt zu haben und inklusive dieses auch wieder zu verlieren, ist seine restliche Existenzgrundlage (244); auch sie gibt er später völlig auf (316f).

Nachbemerkung

Es wäre eine Vergeudung, wenn eine individuell – anobische Wertschöpfung bezüglich des Themas Identität aus einem qualifizierten Roman beiseitegelassen würde.

Identität ist ein lebenslanger vielschichtiger Prozess; bedeutsam für die Anobisität.

In den 10 Universalien mit ihren Extremen können die gegenwärtigen einzelnen Identitätsstandorte zunächst an Hand der Kairos.- Skala ermittelt werden.

Ein Beispiel: In der Reihenfolge der Universalien liegen sie auf den Stufen 3, 4, 3, 5, 2, 4, 5, 2, 5, 6 = 39 : 10 = 3,9.

Der aktuelle Spannungsbogen der Intentionalitätseinheit reicht von Stufe 2 bis 6, also ein Spannungsfeld von 5 Stufen. Die Gesamtidentität ist sehr disparat.

Auf welcher Stufe der Immanenten Dialektik bewegen sich die einzelnen Identitätsstandorte? Für welchen aktuellen Identitätsstandort gibt es derzeit Stagnationen, prozessuale Möglichkeiten, tendenzielle Ansätze oder gar Aufbauten und zu welcher Stufe?

Postskriptum   

Patrick Süskind projiziert in seinem Roman DAS PARFUM den modernen westlichen Menschen in die historisierende Phantasiefigur J.-B.G. In einigen grundsätzlichen Facetten wird dieses skizzenhaft deutlich. Wie der Protagonist des Romans hat sich der westliche individualistische Mensch in den letzten Jahrzehnten bzw. -hunderten „was er ist, ist er durch bzw. aus sich selbst“ aufgebaut. Über seine Selbstdefinition „was er ist“ ist er erfolgreich aus eigener Kraft. Trotz Teamstruktur bleibt aber das Einzelkämpfertum in der Arbeitsgruppe additiv. Jedoch kann der Moderne auch in einer Ambivalenz leben. Er weiss selbst bei bleibender extremer Motivation bezüglich seines hohen, ja Höchstanspruchs an sich selbst um sein Scheitern. Seine Produkte können einen anderen Effekt zeitigen als in der Ausgangslage gedacht. Zieländerungen sind selbstkritisch stets latent wie manifest anwesend. Aber auch die Überwindung dessen, was ausserhalb seiner (göttlichen) Potenz liegt, möchte er weiter zielstrebig verfolgen. In einer derartigen Selbstüberschätzung verbleibt er ausserhalb eines Ausgleichs. Er arbeitet imperativisch, übersieht eine konstruktive Zukunft wie andere indikativische Möglichkeiten, die er in sich selbst besitzt.