Das Parfum – Teil 3

Das Parfum

Dritter Teil

Der Existenzentwurf J.-B.G. basiert sowohl auf einer lebenslangen fast durchgängigen sozialen Isolation als auch in dem engagierten Einzelkampf gegen seine eigene Natur und ihrer Überwindung mit dem Ziel der Selbstverwirklichung (306 bis 308). Die Persönlichkeitsstruktur dieser zentralen Romanfigur zeichnet sich durch die Kombination Introversion und Zwanghaftigkeit aus. Darauf kann er einerseits seine äussere soziale Unterordnung und andererseits seine Stellung ausserhalb sozial-ethischer Codizes aufbauen. Somit verbleibt er permanent in der „Froschperspektive“. Das Zielbewusstsein des Protagonisten, einen sozialen Anschluss herzustellen, ist trotz einer inneren Krise, selbstkritischer Beurteilung und durch eine Insidersprache zementiert (305). Jedoch seine Erkenntnis, die Identität zu verfehlen und diese nur künstlich aufbauen zu können und sich zielpunktuell mit göttlichen Prädikaten (161 bis 163; 197f; 304f; 316) selbst aufzubauen, zeugt von Flexibilität, Durchhaltevermögen und Zielbewusstsein auf der Basis dieser beiden Persönlichkeitsformen (244). Seine Mordserie (246 bis 281) als raffiniertes Engagement ausgeführt und nur als Mittel zur Duftherstellung eingesetzt wird durch eine in sich geschlossene Indizienkette aufgedeckt. J.-B.G. wird verhaftet und inhaftiert. Sein Todesurteil nimmt er als gegeben hin. Jedoch wählt er nach seiner Freilassung selbstständig anderenorts sein Sterben und Tot-Sein. Dem Henker ausgeliefert, in der Hoffnung getötet zu werden, von der Menge einschliesslich des Vaters des letzten Mordopfers in Anbetung geliebt, wird er dem Weiterleben übergeben; was ihm missfällt. Die Liebe der Menge zu ihm wird fehlgeleitet (2), ebenso sein Ekel und Hass für Menschen (2). J.-B.G. bleibt von seiner Geburts- bis zu seiner Sterbestunde von den Menschen emotional getrennt. Selbst das Adoptionsangebot des Vaters des letzten Mordopfers nimmt er nur äusserlich nickend jedoch schweigend mit einem andern Ziel an. In dem differenziert mehrschichtigen gescheiterten Existenzentwurf J.-B.G. liegt seine eigene Ambivalenz verborgen. Die Ambivalenz wurzelt in seiner Person: Er beglückt mit seinem handwerklichen Duftergebnis seine Mitmenschen, die sowohl sich untereinander als auch ihn selbst lieben. Ekel und Hass bleiben nach seinem Wunsch der Menge verborgen. Die Wirkung der bachanalen Liebe verbleibt bei den Mitmenschen in einem engumgrenzten Zeitbereich. Der Wirkung des hervorragenden Duftes und seines genialen Produzenten fehlt jegliche Art von Zukunft; die Wirkung ist verduftet (1). Das ist die eigentliche Katastrophe beiderseits: In dem ersten und zweiten Höhepunkt des Romans bleiben eigentlich die Menschen in Grasse wie in Paris einerseits und J.-B.G. andererseits jeweils in sich gefühlsmässig blockiert. Es bleibt in beiden Bereichen alles beim Alten. Die Mitmenschen bleiben was sie sind. Und J.-B.G. kann nur noch auf seinen selbstbestimmten Sterbeakt zugehen. Der Tötungsakt wird kannibalisch „aus Liebe“ (letzter Satz des Romans!) ausgeführt (-1).

Dem einzigartigen Duft fehlt die Nachhaltigkeit der Wirkung; dieser ist selbst restlos verschwendet worden. Das doppelte Projekt des Identitätsaufbaus – des Selbst- und Fremdriechens – musste scheitern. Zwischen der natürlichen pränatalen Mangelausstattung und der aussergewöhnlichen Hochbegabung blieb zwar eine extrem starke Differenz, die aber intensiv zusammengeschweisst war (191 bis 200). Damit hat J.-B.G. die Perspektive eines neuen Existenzentwurfs völlig ausgeschlossen.

Tötung aus Liebe – Sterben und Tod, sich dem hingeben und Liebe fallen literarisch zeitlich ineinander; jegliche Nachhaltigkeit aber fehlt.

Das Leitmotiv Liebe und Tod bringt als internationale Thematik sowohl eine weltliterarische (z.B. Romeo und Julia) als auch eine religiöse (Kreuzestod Jesu) und damit eine anthropologische Spannung.

In der neutestamentlichen Literatur stirbt Jesus „für uns“ bzw. „für euch“, während J.-B.G. sich isolierend tragisch für sich selbst stirbt.

This entry was posted on Freitag, April 1st, 2016 at 10:30 and is filed under Allgemeines. You can follow any responses to this entry through the RSS 2.0 feed. You can skip to the end and leave a response. Pinging is currently not allowed.

Hinterlasse einen Kommentar