Selbstbeschädigung (Automutilation)

außerhalb der Symptomatik der Borderlinestruktur – ein exemplarischer Fall –

Teil 1

Dieser Text isoliert das Symptom Selbstbeschädigung von der Borderlinestörung, weil dieses Kennzeichen auch außerhalb des genannten Störungsbildes diagnostiziert werden kann. Die Automutilation kann somit als eine eigenständige Diagnose aufgefasst werden. Jedenfalls kann die Selbstbeschädigung stufenweise von (fast) harmlosen Fingernägelkauen über Haarausraufen bis zum Suicid gesehen werden.

Die Mehrheit der Patienten mit Selbstbeschädigung geht gegen sich selbst schädigend einseitig vor, d.h eher vom Erleben der Aggressionen, Überfremdung oder/und Zurückweisung der Außenwelt. Der Aufbau einer notwendigen Gegenstruktur der Selbstbehauptung, der Verteidigung und /oder der Selbstachtung fehlt völlig. Diese Art von Selbstbeschädigung wird eher schmerzfrei und lustbetont erlebt; erst nach Behandlung der Wunde treten Schmerzen auf.

Selbstbeschädigung kann am Körper sichtbar, durch Kleidung verdeckt oder aber auch innerhalb des Körpers (körperinwendig: Abbeißen der Zungenspitze, Aufbeißen der Innenwände der Wangen, Zerstoßen der Mittelhandknochen) nachweisbar sein. Auch kann sie vorgegebenermaßen als sportliche Betätigung willentlich herbeigeführt werden. Ebenfalls kann eine sportliche Übung zunächst vorschriftsmäßig ausgeführt werden, dann jedoch vorsätzlich eine Automutilation zur Folge haben (z.B. Liegestütze mit anschließendem Aufschlagen der Stirn). Kaschierung (Sportübung; Kleidung) der vernarbten Körperstellen ist ein Symptom der Automutilation.

Die Selbstaggression zeigt eine reaktive Handlungsweise, die frei von adäquater und zielgerichteter Antwort gegen die Aggression, Überfremdung und/oder Zurückweisung der Außenwelt ist.

Dieser Text beschreibt folgenden exemplarischen Fall.

Ein junger Patient hat sich mehr als 5 Jahre mit Glasscherben, Rasierklingen oder scharfen Trennmessern selbstbeschädigt. Jede Körperregion war entweder aufgeritzt oder aufgeschnitten. Seine Organisation konnte hoch eingestuft werden. Einen dieser genannten Gegenstände trug er stets bei sich, auch versteckt in einem seiner Turnschuhe. Sowohl einem aktuellen Erleben der Außenwelt als auch einem präsentischen Nacherleben aus der Vergangenheit, das er emotional negativ einstufte, konnte er umgehend nach seiner routinemäßigen Art begegnen.

Während dieser Automutilation war der Patient schmerzfrei und schaute lustbetont, ja orgastisch dem Blutablauf zu. Jedoch nach dieser Art der Selbstbeschädigung und Behandlung der Wunde traten stets Schmerzen auf. Die Wunden heilten relativ schnell.

Das Erleben der Außenwelt, das er positiv einstufte, beantwortete er in gleichem Maße. Aber jetzt traten gleich während der Selbstbeschädigung Schmerzen auf, die erst nach der Behandlung der Wunde langsam abklangen. Beim Blutverlust schaute er weg. Diese Reaktion war frei von der Lustbetonung (psychoanalytisch ausgedrückt: lustunbetont).

Zusammengefasst heißt das, der Patient befand sich außerhalb adäquater Reaktion sowohl bei negativem, als auch bei positivem Erleben der Außenwelt. Eine doppelseitige Reaktion ist seltener. Verteidigung wie Freude und Dankbarkeit gegenüber Mitmenschen waren ihm als adäquate Äußerungen fremd. Sein Verhältnis zur Außenwelt war über das Niveau des technischen Alltagsablaufes hinaus massiv gestört.

Sein Selbstbeschädigungsverhalten hatte Suchtcharakter angenommen, denn dieses Verhalten hatte Folgen, die zum Symptomkreis jeder Suchtart gehören:

gescheiterte schulische und berufliche Ausbildungen, komplizierte familiäre Konstellation (im besagten Fall: Geburt eines Geschwisters im 12. Lebensjahr des Patienten und Erleben der Zurücksetzung, Beginn der Selbstbeschädigung), fehlender Aufbau eines Freundeskreises bzw. einer Partnerschaft. Weitere Merkmale dieses suchtartigen Störungsbildes folgten: Diebstahl, Aufbrechen von Autos und Schwierigkeiten mit der Polizei.

Seine erfolgreichen kriminellen Taten und das Narren der Polizeibeamten, das er mit Freude berichtete, blieben von der Automutilation frei. Das war psychologisch gesehen folgerichtig, denn diese Taten drückten seine erfolgreiche Eigenständigkeit innerhalb dieses Handlungskreises aus. Hier fehlte ja ein direkter positiver oder negativer Einfluß von außen auf ihn.

Die Einflußnahme von außen, die über das Niveau des technischen Alltagsablaufes hinaus sowohl die negative als auch die positive Gefühlswelt erreichten, waren die Quellen der Störung für die selbstbeschädigende Reaktion.

In der psychischen Entwicklung dieses jungen Patienten fehlten die Aufbauten für adäquate Äußerungen auf negative wie positive Erlebnisse. Den Mitmenschen gegenüber Gegenwehr zeigen bzw. Freude oder Dankbarkeit äußern, waren ihm fremd geblieben. Die Erinnerung an derartige Reaktionen aus der Zeit vor der Geburt des Geschwisters war eine Tabula rasa.

Antwortgarantie auf Ihr Votum, das Sie mir zusenden unter: hans-georg.fellecke@freenet.de

This entry was posted on Donnerstag, März 1st, 2012 at 00:05 and is filed under Allgemeines. You can follow any responses to this entry through the RSS 2.0 feed. You can leave a response, or trackback from your own site.

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