Anobische Interpretation

Teile 1 bis 3

Teil 1

Alle Objekte, die durch eine anobische Interpretation erfasst werden sollen, werden mehr als nur einmal (in der Regel dreimal) in den hermeneutischen Zirkel gegeben werden müssen.

Alles Sichtbare und außerhalb der Sichtbaren dieser Welt gelten als interpretierfähige Objekte.

Die anobische Interpretation untersucht zunächst die Struktur des Textes, indem 1. seine Elemente und 2. deren Funktionen festgestellt werden. Die Kairos-Skala ordnet in die Stufenlehre ein.

Spannungsbögen, Universalien, Intentionalitätseinheit und Immanente Dialektik sollen dann folgen. Am Schluss der hermeneutischen Zirkelläufe steht die anobische Gesamtfassung der Interpretation.

Mit dieser Interpretation kann der Text auf Grund neuer Informationen und Erkenntnisse erneut abgeklopft werden, um das Ergebnis zu modifizieren, zu verifizieren oder zu falsifizieren.

Für die neutestamentlichen (auch für die alttestamentlichen) Texte wird die historisch-kritische Methode ein sekundäres – wenn auch wichtiges – Hilfsangebot. Es bleibt bei der Entscheidung des Interpreten, ob er die rekonstruiert mündliche, nach seiner textkritischen Analyse die schriftlich fixierte, zusätzlich die Kontext- sowie die redaktionelle Fassung oder auf der Basis des Kanons deuten möchte. Bezüglich des Kanons muss nach dessen Kriterium gefragt werden. Welches soll jedoch leitend in der langen Theologiegeschichte sein? Ich schlage das Kriterium „Göttlichkeit Gottes“ vor. Texte, die dieses Kriterium erfüllen – auch säkulare – , können einen kanonischen Anspruch erheben.

Es werden drei Texte vorgestellt
(die in Klammern gesetzte fettgeschriebenen Zahlen sind die Einordnungen der Kairos-Skala):

1. FRANZ KAFKA, DAS GESETZ,
2. LUKASEVANGELIUM 16, 1 ff. DER KRIMINELLE GUTSVERWALTER oder EIGENINITIATIVE VOR DER EIGENSTÄNDIGEN ZUKUNFT (Teil 2 – November 2010) als Gegentext zu 1. und
3. MATTHÄUSEVANGELUM 2, 1 ff. DIE ASTROLOGEN AUS DEM OSTEN oder DIE MESSIANISCHE ERFÜLLUNG IM KINDMYTHOS (Teil 3 – Dezember 2010)

Nun zu dem 1. Text:

1. Elemente
a. das Gebäude „Gesetz“, b. die offenstehende Tür, c. der erste Türhüter, d. weitere Türhüter, e. der Mann vom Lande, f. die Flöhe;

2. Funktionen
ad 1.a. anonyme Autorität einer Machtstruktur (2)
ad 1.b. freier Eingang nur für den Mann vom Lande (3); wird am Schluss geschlossen (1),
ad 1.c./d. erster (2) und weitere Vertreter (1,5) der anonymen Autorität in steigender Mächtigkeit; erster Türhüter spielt seine Macht aus (2) und stellt dem Mann vom Lande den Zutritt in Aussicht (2,5),
ad 1.e. Mann vom Lande begehrt Einlass, folgt dem Einlassverweigerer bis kurz vor seinem Ableben gehorsam, er verbleibt im Wartestand trotz Bitten, Durch-die-Tür-Schauen und Bestechungsgeschenken, ist fixiert auf sein Einlassbegehren, schreibt dem ersten Türhüter mehr Macht zu (2); körperlich, sozialer und psychischer Absieg (1,3), Selbstbefragung nach dem Grund, warum nur er Einlass begehrt; im Verhalten zu sich selbst festgelegt (2); am Erzählschluss ist er dem Tode nahe (1,1);
ad 1.f. in seinem Abstieg verfällt der Mann vom Lande sogar auf die Kommunikation mit den Flöhen im Pelz des ersten Türhüters als mögliche Helfer (1,3).

3. Kairos-Skala / Berechnungseinheit
21,7 : 12 = 1,81 Der Spannungsbogen reicht von 1 bis 3 – genauer 1,1 bis 3,0; also eine geringe Bewegungsmöglichkeit von 2,0 Punkten. Außerdem bewegt sich die Erzählung eher im unteren Bereich der Kairos-Skala und wird in die Stufe 1 mit starker Tendenz zu 2 eingeordnet.

Die Ablaufgestalt der Erzählung ist in sich abgeschlossen. Sie verbleibt innerhalb des status quo in der Relation 1. Gehorsam gegenüber einer anonymen Macht-Autorität, die reichlich, erfolgreich und destruktiv ausgeübt wird, und 2. Umgang des Gehorsamen mit sich selbst. Die Diskrepanzen Über – Unter sind in beiden Punkten überdeutlich. Eine Vermeidung der Übereinstimmung ist ziemlich extrem ausgestaltet.

4. Universalien
a. Dasein – Mitsein
Hier wird nur der Aspekt Dasein – Umgang mit sich selbst – herauskristallisiert. Der Mann vom Lande bleibt nur innerhalb seiner Wirklichkeit, andere Möglichkeiten im Umgang mit sich selbst unterbleiben. Er verharrt in einer negativen Negation.
b. Persönlichkeitseinstellung
Beide Figuren der Erzählung sind zwanghaft aufgebaut. Sowohl der ertse Türhüter als auch der Mann vom Lande halten an ihrem jeweiligen Zielbewusstsein durchgängig dogmatisch fest. Selbstkritik unterbleibt.
c. Äußere Lebensgestaltung
Lässige Passivitäten gepaart mit extrem geringen Aktivitäten bilden das Motiv im Aufbau der Konstellation anonyme Autoritäts- und personengebunder Gehorsam.
d. Weltgestaltung
Ablauf eines Geschehens zwischen einer fast bis zum Zerbrechen perfekt gehorsamen Person unter der absolutistischen Haltung einer anonymen Machtstruktur.

5. Struktur von Inhalt und Form
Die Erzählung läuft hinsichtlich der Struktur von Inhalt und Form auf die positive Negation hinaus. Die positive Form: Ich will da hinein; ich schließe die Tür; die inhaltliche Negation: die Chance hineinzukommen wird mit dem Schließen der Tür endgültig unterbunden; Mann vom Lande nimmt diesen Abschluss widerspruchslos hin und ist kurz vor dem Ableben. – Eine positive Negation hat stets zynische Tendenzen.

6. Intentionalitätseinheit
Der Mann vom Lande erlebt eine doppelte Blockade hinsichtlich eines Fortschritts in der Entwicklung, seine Chance wahrzunehmen. Er blockiert sich selbst und akzeptiert den blockierenden Türhüter. In der Selbst- und Fremdblockade fehlt jeweils der Durchbruch. Die Erzählgestalt ist in sich abgeschlossen. Die Gegenwart des Mannes vom Lande endet vor der Inbesitznahme der Zukunft (gen. subj.). Es gibt also keine Zukunft für den Mann vom Lande. Die Intentionalitätseinheit wäre bei der Wahrnehmung der Chance des Mannes vom Lande eine Stufe weiter ausgebildet.

7. Immanente Dialektik
Die Erzählung bleibt für den Mann vom Lande in der Korrespondenz mit dem ersten Türhüter und umgekehrt auf der Stufe a. mit einer starken Tendenz zu b. In ihrer Interaktion fehlt der Respekt der Gleichheit. Das urbewusst eigen- gepaart mit dem fremdpersonengebundenen Über, das ein zielgerichtetes und durchsetzungsfähiges Contra ausgebildet hat, führt den Schwächeren zu dem lebensgefährdenden Rand der Existenz. Es fehlen für die nächsten Stufe das Bewusstsein der eigenen Initiativ-Möglichkeit und der Respekt des Stärkeren vor dem Schwächeren.

8. Anobisität Zielvorgabe und Selbst- wie Fremdblockaden, die sich in gleichbleibenden bedrückenden Kreisläufen vollziehen wirken lebenzerstörerisch. Der Mann vom Lande ist vor dem Haus des Gesetzes schon selber das Gesetz. Noch pointierter: Schon vor der Entscheidung, zum Haus des Gesetzes aufzubrechen, befand sich der Mann vom Lande in seinem eigenen Gesetz.

Ein Gegentext ist LUKASEVANGELIUM 16, 1ff (Text im nächsten Monat) (s. dort noch weitere Textempfehlungen)

Antwortgarantie auf Ihr Votum: E-Mail: hans-georg.fellecke@freenet.de

This entry was posted on Dienstag, März 1st, 2011 at 00:15 and is filed under Theologie. You can follow any responses to this entry through the RSS 2.0 feed. You can leave a response, or trackback from your own site.

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