Anobisität vom Oktober, 2021

Dostojewski DIE BRÜDER KARAMASOW

01.10.2021

Insel Taschenbuch 974 * Übersetzer Karl Nötzel
Erste Auflage 1986 * Copiright 1921
Eine sozialpsychologische Analyse auf der Basis der Anobisität

(Die fettgedruckten Zahlen in Klammern geben die Kairosstufen an.)

Die Gruppe der Väter

Fjodor Pawlowitsch (FP)
als leiblicher Vater des Brüderquartetts; ignoriert jedoch diese Vaterschaft bei SF; seine Leitkultur sind die Finanzen, die er ausschließlich egoistisch und intensiv einsetzt; als sozialer Vater für DF werden Geld und Beziehung mit einer Frau zu einem manifesten Dauerkonflikt. Eine verbale Auseinandersetzung und entsprechende Konfliktlösung auf Augenhöhe zwischen diesen beiden erwachsenen Männern bleiben aus. (1,5)
Die soziale Vaterschaft zu SF bezüglich der Berufsausbildung, ärztlicher Betreuung und Festanstellung im Haus nimmt FP aber wahr. Der Widerspruch zwischen leiblicher und sozialer Vaterschaft birgt einen latenten Konflikt. (4)

Iwan Fjodorowitsch (IF)
erklärt die westeuropäische Philosophie zu seiner Leitkultur, mit dieser avanciert er bei SF wissensfrei zur ideologischen Vaterfigur. (3)

Westeuropäische Philosophie (WP)
gibt als anonyme Autorität mit „Alles ist erlaubt“ einen Grundsatz an, der die Freiheit von Konventionen verspricht. (3)

Starez Sossima (SS)
gilt als der soziale Vater für AF; Leitmotiv ist die christliche Liebesreligion. (5)

Alexej Fjodorowitsch (AF)
versöhnt als soziale Autorität eine verfeindete Kindergruppe auf der Basis der christlichen Liebesreligion. Da die Versöhnung sowohl in der Gruppe als auch in der Erinnerung bleiben soll, fehlt die Stufe c. der Immanenten Dialektik. (4,8)

Das Geschworenenteam (GT)
mit sozialer Väterstruktur verurteilt DF auf der Basis des Gesetzes, das die zaristische Autokratie spiegelt. Offenbar ist ihr gemeinsamer Urteilsspruch, DF sei der Mörder seines Vaters, auch ein Selbstschutz. (1)

Grigori Wassiljewitsch (GW)
ist zwar in den ersten Lebensjahren DFs der fürsorgliche Vater; involviert in den Kriminalfall wendet er sich mit falscher – wenn auch für ihn selbst glaubwürdige – Behauptung gegen seinen ehemaligen Pflegesohn. (2)

(24,3 : 7 = 3,47)
Die Gruppe der Väter ist disparat; als eine geschlossene Einheit mit einem konstruktiven Angebot für die nachfolgende Generation gehört sie der Vergangenheit an. Ansatz der Leitlinie (SS; AF), mit der alle Mitglieder einer Gesellschaft leben könnten, ist vorhanden, jedoch bleibt dieser Vorstoß in seiner Wirksamkeit gering.
Der Spannungsbogen der Intentionalitätseinheit reicht von 1 bis 5. Diese Spannweite ist zu groß, um eine gemeinsame Operationsbasis bilden zu können. Das Angebot der Vatergesellschaft pendelt zwischen einem autoritären Imperativ und einer versöhnenden Liebesreligion.
In der Immanenten Dialektik hebt sich die Disparität der Vatergesellschaft von den Stufen a. bis c. besonders heraus.

Diese Berechnung zeigt eine geringfügig zusammengehörige Vater-Sohn-Struktur, die nachhaltig agieren könnte. Die Botschaft des SS bzw. AF fällt in dieser sozialpsychologisch betrachteten Vatergesellschaft eher schwach und isoliert aus.

Das Brüderquartett

Dmitri Fjodorowitsch (DF)
Das Vater-Sohn-Verhältnis FP, GW bzw. GT zu DF: Die drei Väter gewinnen gegen DF. FP behält durch Verweigerung des Erbes gegen DF die Oberhand, GW tritt als glaubwürdiger Zeuge vor Gericht gegen DF und GT verurteilt nachweisfrei DF zu 20 Jahren Verbannung. DF unterliegt allen drei Vätern, die absolut fehlerhaft dominieren. – Vor und in dieser Lage gibt es nur punktuelle brüderliche konstruktive Kontakte. DF ist wie alle Brüder untereinander letztendlich isoliert. Er bleibt mit dem falschen, verhängnisvollen Urteil trotz Fluchtplan allein. (1,5)

Iwan Fjodorowitsch (IF)
hebt sich durch seine im westeuropäischen Ausland erworbene Bildung und Philosophie ab. Seine Einstellung zur Freiheit, die er als absolut deklariert, hat er höchstens nur auf seinen Bruder SF Einfluss. Die Kombination „philosophische Überzeugung – familiäre Konfliktlage“ blendet er aus; besonders die Konsequenz aus dieser Konstellation. Er bleibt in seiner Einstellung gefangen, die ihn psychisch-physisch lähmt. Er fällt als Zeuge, der das Geständnis des Mörders kennt, aus. (2)

Alexej Fjodorowitsch (AF)
Dem jüngsten der legalen Söhne des FP fehlt in den Gesprächen mit seinen älteren Brüdern die erfolgreiche Durchschlagskraft hinsichtlich seiner versöhnenden christlichen Liebesreligion. Diese findet im außerfamiliären Kreis bei Kindern statt. Hier versöhnt er die Mitglieder einer verfeindeten Kindergruppe. Jedoch in der dringend notwendigen Hilfestellung für seinen Bruder DF hält er sich eher zurück. Sein Engagement für diesen hinsichtlich der brüderlichen Liebe ist wenig zuspüren. (3,5)

Smerdjakow (Fjodorowitsch) (SF), (auch Pawel Fjodorowitsch)
Im Gespräch mit seinem Bruder IF gesteht er den Raubmord an dem gemeinsamen leiblichen Vater. Durch Selbstmord überlässt er die Hilfe für DF den anderen drei Brüdern. Seine vorausschauende Strategie und erfolgreich taktische Ausführung des Raubmordes auf der Grundlage des vermeintlichen Auftrags IFs und damit sein Eingeständnis, nur Ausführender gewesen zu sein, lässt auf seine hohe Intelligenz, kriminelle Energie und unterdurchschnittlich soziale Verantwortung schließen. – Sein Plan, mit dem Raub ein besseres Leben im Ausland aufzubauen, durchkreuzt er selbst durch seinen Suizid. (-1)

(7 -1 : 4 = 1,5)
Die vier Brüder sind wie die Vätergruppe als ein Quartett disparat und bleiben vor einer zielführenden Hilfsplanung für ihren Bruder DF außen vor. Das Quartett bleibt bezüglich der nur angedachten Hilfe für DF in sich blockiert. Liebesreligion geht an dem vorbei, der sie nötig hat.
Die Intentionalitätseinheit zeigt einen Spannungsbogen von -1 bis 3,5; also mit 4,5 Stufen. In diesem oberen mittleren Bereich ist die inkompetente gemeinsame Handlungsstruktur verankert.
Die Immanente Dialektik verharrt zwischen den Stufen a. und b.

Der Entwicklungsabstand von 3,47 bis 1,5 – also ca. 3 Stufen – zwischen den beiden behandelnden Gruppen zeigt deutlich, dass sich das traditionelle Gesellschaftsgefüge sich destruktiver entwickelt hat. Die Ablösung fester gesellschaftlicher Strukturen mit Generationen übergreifender Folge hat eingesetzt.
In beiden Gruppen zeichnet sich horizontal eine Disparität ab, die vertikal in der Folge der Generationen eine Entsprechung hat.
Die Immanente Dialektik zeigt zwar die Stufen a. und b., jedoch fehlt die Stufe c. mit einem Neuanfang.

Wieweit bildet die versöhnende christliche Liebesreligion (mit sozial(istisch)en Elementen) die Leitkultur F.M.D. in den Gesprächen der männlichen Hauptpersonen des Romans?
Diese hebt sich in der Folgeschaft SS zu AF, und dann zu der Kindergruppe von allen anderen Gesprächen beider Männergruppen Allenfalls kann noch das Gespräch IF mit AF hinzugenommen werden. Alle anderen zielen an der Leitkultur des Romas vorbei.

Dostojewski sieht wohl die gesellschaftliche Entwicklung von einer zu nächsten Generation in einer gewissen Ablösung der Tradition. Dennoch erhebt er mit seiner Heldenfigur Alexej als Glied zwischen SS und der Kindergruppe die christliche Liebesreligion zum Heilmittel eines künftigen Gesellschaftsaufbaus.

Insgesamt hebt der Roman 9 Männergestalten heraus. Nur zwei davon – SS und AF – zielen auf die eigentliche Aussage ab; also statisch ca. nur 22 Prozent.

Auch eine auf Augenhöhe basierte kritische Aufnahme dieser Leitkultur fehlt sowohl bei AF als auch der Kindergruppe. Der Leser vermisst eine Trägerschaft dieser Leitkultur für die Zukunft.

Nachträge

1. zu den Frauengestalten
Die wichtigen Frauengestalten des Romans:3 Mütter sind verstorben Vier weibliche Kontaktpersonen der männlichen Akteure verbreiten eher Chaos statt konstruktive Hilfe für DF anzubieten. Diesen Figuren mit- und untereinander mangelt es an versöhnender Liebesreligion.
D.h., dass das weibliche Element in dem Roman trotz einer vielfachen textlich breiten Schilderung an der Kernaussage vorbeigeht, obwohl F.M.D. dieses Element substantiell hätte aufbauen können.

2. zu dem Aufbau der Verhaltensweisen der Männer zu den Frauen
a.
Machohaftigkeit
FP benützt seine 2 legalen Frauen wie seine illegale (die Stinkende) und Agrafena Alexandrowna (Gruschenka) via Geld und Sex für seine Interessen.
b. Beziehungsleere
Die Kontakthäufigkeit und deren nachhaltige Dauerhaftigkeit der beiden Brüder DF und IF zu den Frauen – Katarina Iwanowna, Katarina Chochlakow laufen letztendlich ins Leere; ebenfalls bei AF mit Lisa.
c. Fehlanzeige
In den Texten mit WP, GT und SF fehlen Frauengestalten
d. Kontaktbasis im Sinne der grundsätzlichen Romanaussage
Nur bei SS zeigen sich positive Kontakte zu den Frauen. Allerdings bildet sich ein Gefälle im Verhältnis Geber und Abnehmer heraus. Aber ein Weiterreichen an die nächste Männergeneration, sprich AF, ist gegeben.

Fragen / Hinweise

Block A
01.
Drei Brüder tragen offiziell, ein Bruder eher inoffiziell den ersten Vornamen Dostojewskis. Wieweit sieht Dostojewski sich selbst in der Zerrissenheit des Brüderquartetts?
a. Hilfe in Not bleibt aus.
b. Westeuropäische Philosophie restfrei aufgearbeitet?
c. Einstellung zum Suizid
d. F.M.D.s persönliche Praxis in Liebesreligion.
02. Breitenwirkung der Sichtweise F.M.D. hinsichtlich seiner Einstellung zum christlichen Glauben.
03. Wieweit decken sich F.M.D.s Lebensführung mit seiner christlichen Einstellung, damit auch eine historisch-kritische Analyse dem Werk gerecht werden kann?
04. Welche biografischen Daten verarbeitet F.M.D. in diesem Roman?

Block B
05.
Stellenwert und allgemein verbindliche Leitkultur
a. der Ständegesellschaft in zaristischen Russland und
b. der russisch-orthodoxen Kirche im ausgehenden 19. Jahrhundert.
c. Wieweit konnte die medizinische Forensik des 19. Jahrhunderts in Russland an den Einschlägen des Mordopfers spitze von runden unterscheiden?

Block C
06.
Diese gesellschaftsverändernde Prophezeiung bezüglich der Auflockerung väterlich-autoritäre Struktur eilt 80 Jahre voraus? Westeuropäische Studentenbewegung der 60er Jahre des 20 Jahrhunderts; Alexander Mitscherlich „Vaterlose Gesellschaft“.
07. Welchen Zweck hat diese Vorschau in einem Roman, der in einen Kriminalfall eingebettet wurde?
08. F.M.D.s Heldengestalt Alexej agiert in einer Nebengruppe, in einer Kindergruppe. Eine Nachhaltigkeit der Breitenwirkung und Weitergabe der versöhnenden Liebesreligion an die nächste Generation fehlt.
09. Die Tragfähigkeit des christlichen Versöhnungsideals bleibt für die Familie Karamasow aus. DF geht leer aus.
10. Wieweit muss der Roman zurückhaltend zu interpretiert werden, da seine Ablaufgestalt offen ist?

Block D
11.
Ich habe mich gegen eine historisch-kritische Analyse auf der Basis der Anobisität sozialpsychologischer Kenntnisse entscheiden müssen, weil mir genaue Kenntnisse (s. Block A und B) fehlen.