Anobisität vom Juli, 2022

Jesu Eigenständigkeit und sein Eingebundensein Lukasevangelium 2, 41 – 52

01.07.2022

Der Text legt zunächst an drei Stellen Wert darauf, dass Jesus
a. noch ausserhalb der jüdischen Religionsmündigkeit und
b. damit vor der gesellschaftlichen Volljährigkeit steht, sowie
c. in der festen Struktur familiärer Bindung eingebettet ist.

ad a. Jesus ist erst zwölf Jahre alt. Der männliche Jude ab dem 13. Lebensjahr war ein volles Mitglied der Religionsgemeinschaft, das sich nach einer autorisierten Prüfung aktiv am Synagogengottesdienst beteiligen konnte. Der zwölfjährige Jesus befindet sich auf der Schwelle zur Religionsmündigkeit; also im heutigen Sinne etwa einem Teenager vergleichbar. Die notwendige Volljährigkeitserklärung der Religionsgemeinschaft wird für Jesus ausgeblendet. Er befindet sich – wie die Kontextexegese beweist (s.u.) –  außerhalb der notwendigen spätjüdischen Legitimation.

ad b. Jesus hat sich aus der heimkehrenden Familie einschließlich der größeren Pilgergruppen gelöst und ist selbstständig im Jerusalemer Tempel zurückgeblieben (43 b, 44, 46 b – 49). Die eigentliche Trennung von den biologischen Eltern hin zu seinem eigentlichen Vater liegt in V. 49 (s.u.).

ad c. Jährliche Pilgerreise der Herkunftsfamilie Jesu zum Passahfest (41); Hinweis auf die Frömmigkeit und Gesetzestreue seiner Familie, in die der zwölfjährige Jesus eingebunden ist (42); Jesus das Kind (43); Verantwortungsbewusstsein der Eltern für Jesus als Schutzbefohlenen (45), wird verstärkt (46 a); Auffinden Jesu statt Erleichterung und Freude Schreck der Eltern mit Marias Vorwurf sowie sorgenvoller Belastung (48) inklusive Hinweis auf seinen Vater Joseph, und der emotionale Schock beider Elternteile (48 a); Maria als vorwurfsvolle Gesprächsführerin (48) benützt das Wort teknon = Kind, das das Verhältnis zu beiden Elternteilen beschreibt (48) [s. dazu BAUER, Griechisch-Deutsches Wörterbuch]; Jesu zurechtweisende Antwort in suggestivähnlicher Frageform (49 a), dennoch mit anschließender Begründung; Jesus der Heranwachsende in der spätjüdischen patriarchalen Gesellschaft (51 und 52).

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Jesus in eine doppelte Rolle eingebunden ist: einerseits die selbstständige Entscheidung des Tempelaufenthalts, andererseits die Einordnung zur Zugehörigkeit der menschlichen Gemeinschaft.

Das Exklusive dieses Textes liegt in den Versen 46 bis 49. Hier wird die doppelte Zugehörigkeit Jesu zu einer dreifachen erweitert.

1. Der Tempel als Ort des Auffindens Jesu und dessen Gespräch mit den theologisch versierten Autoritäten.
2. Der Tempel als das eigentlich religiöse Zentrum des Judentums. Jesus befindet sich am „Herzschlag“ der jüdischen Religion.
3. Jesu zwei Antworten an Maria in Frageform: a. Grund ihrer Suche, b. der Tempel ist das Haus meines (himmlischen) Vaters. Jesus antwortet gemäß dieser Funktion: „Es ist notwendig, im Haus meines Vaters zu sein!“ Hier bin ich richtig.
4. Frage-Antwort-Interaktion zwischen dem mündig werdenden Jesus und den legitimierten Autoritäten. Jesus zeigt seine theologische, religiöse Eigenständigkeit. Der genaue Inhalt des Gesprächsverlaufes unterbleibt.
5. Die Reaktion der Autoritäten auf den Gesprächsverlauf war aussergewöhnlich. Diese sind bezüglich Jesu Auffassungsgabe, seiner Urteilskraft, seines Scharfsinns wie „aus dem Häuschen“ = existanto = aus der Fassung gebracht. Offenbar will der Text zeigen, dass Jesus den jüdischen Autoritäten theologisch, religiös überlegen ist.
6. Jesus nimmt autonom zu seinem eigentlichen Dasein Stellung und grenzt sich damit von seinen biologischen Eltern expressis verbis ab, während die Qualität des Gesprächs mit den Autoritäten nur durch deren Reaktion angezeigt wird.

Das zwölfjährige Lebensjahr Jesu bietet dem Text die Möglichkeit, dessen künftiges Spannungsverhältnis aufzubauen: einerseits Zugehörigkeit zu seinem (himmlischen) Vater – andererseits zu seinen biologischen Eltern und den jüdischen Gesprächspartnern.

Seine Eltern verstanden nichts (50). Jedoch Maria speicherte alle Antworten ihres Sohnes ab (51 b). (Wieweit kann hier ein Ansatz zum Messiasgeheimnis vorliegen?)

Jesus tritt in dem zunächst isoliert umgelaufenen Text eigenständig auf. Eine ausdrücklich genannte Legitimation kann dann auch unterbleiben.

Dazu der redaktionelle Kontext:

1. Eine indirekte Legitimation für sein Dasein, sein Wirken Kap. 2, 22 ff, Kap. 3, 1 – 19.
2. Eine direkte weist auf die himmlische Rechtverfertigung (zielgerichtet expressis verbis Kap. 2, 11 und 12; Kap. 3, 21 b und 22) seiner religiösen Funktion.
3. Kap. 1 bis 3 bilden eine ausreichende Basis für Jesu späteres Engagement per Vollmacht ab Kap. 4.

Zur theologischen Weiterentwicklung:
Die eingangs zusammenfassende Textüberschrift kann Joh. 1, 1 und 1, 14 vorbereiten.

Die anobische Sichtweise

Die vorstehende Interpretation ist bezüglich der Verdeutlichung für heutige Leser stark verschachtelt durchwoben, dass Angaben zur anobischen Methodensequenz eher nachträglich sinnvoll sind.

Zu den Universalien

1. Persönlichkeitseinstellung
a. Introversion Die Jesusgestalt ist in diesem Text introvertiert aufgebaut: einerseits nimmt Jesus seine (himmlisch) bestimmte Funktion selbstsicher wahr, andererseits hat er sich selbstständig aus den Pilgergruppen gelöst sowie sich auch familiär als Schutzbedürftiger untergeordnet. Die introvertierte Persönlichkeit vollzieht trotz Beachtung gesellschaftlich geregelter Forderungen ihre eigene Freiheit. Die introvertierte Grundhaltung kann ein manifestes Ich innerhalb der gesellschaftlichen Einbindung durchgängig halten.
b. Plaesionie Als Mutter und Wortführerin tritt Maria engagiert ihrem Sohn gegenüber auf. Ihr Einsatz für den selbstständig handelnden Sohn ist gepaart mit Sorge und hoher emotional geladener Reaktion. Die plaesionische Persönlichkeit in ihrer Grundhaltung richtet sich auf das Mitsein aus; das Ich-Sein tritt eher zurück.

2. 4. Äussere Lebensgestaltung
Jesu Eltern nehmen ihre Erziehungsaufgabe und Beaufsichtigungspflicht für ihren Sohn engagiert wahr, fragen nach dem Verbleib ihres Kindes in andern Pilgergruppen ergebnisfrei nach, suchen nach dem Verschwundenen drei Tage in Jerusalem und sind schockiert, ihn im Tempel wiederzufinden.
Das Extrem sorgenvolle Autorität kann voll angesetzt werden.

3. 6. Ortseinstellung
Der Zwölfjährige gibt den Tempel, die Wohnstätte Gottes, als sein eigentliches Zuhause an. Für seine eigentliche Funktion ist das Extrem stabilitas loci angemessen.

4. 8. Kulturgebundenheit
a. Offenbar ist Jesu Herkunftsfamilie gemäß spätjüdischer Frömmigkeit und Gesetzestreue deutlich hervorgehoben aufgebaut.
b. Für die Religionsautoritäten kann nur auf deren Reaktion verwiesen werden; Information der Gesprächsinhalte unterbleiben.
c. Jesu Antworten resultieren wohl aus seiner dargestellten Funktion.
Bezüglich der drei Bereiche a bis c zeichnet der Text eine plurale Einstellung.

Zu der Intentionalitätseinheit

Jesus als Zwölfjähriger befindet sich auf der Kairos-Stufe 2 in der gehorsamen Unterordnung unter seine Eltern aber auch in der abweisenden Antwort an seine Mutter. In der Funktion als Sohn seines himmlischen Vaters ist Jesus stabil und kann daher in die Kairos-Stufe 6 eingegliedert werden.
Das ergibt einen Spannungsbogen von 5 Stufen. Die spätere durchgängige Auseinandersetzung mit einer festgefahrenen Gesetzestreue bestimmter Bevölkerungsteile haben ihren Ansatz.

Zur Immanenten Dialektik

Jesu Einordnung sowohl in Religionsfrömmigkeit als auch in die gesellschaftliche Stellung, die einem Zwölfjährigen noch zukommt, befindet er sich auf der Stufe b., also hier werden zwei Gegenüber – Einzelperson Jesus vs. Familie und Autoritäten – markiert. Die stabil eigenständige Funktionsausübung, die sich dann im Verlauf seines Wirkens durchgängig erweist, gehört auf die Stufe c.

Zur Wesenseinheit von Inhalt und Methode

Die Anobisität ist das Primitivste, was es überhaupt im Kosmos gibt. Sie ist so primitiv, dass sie die höchste Qualität verkörpert und selbst ihr Eigentümer ist. Die o. aufgefächerten Interpretationsteile können von der Basis der Methodensequenz zu den Textaussagen hin- und her geschlossen werden; sie sind immer miteinander deckungsgleich.
Die Anobisität produziert Zirkelschlüsse und hält diese auch aus; das kann sie auch locker!
Schließlich schaut das Sein durch die und als Anobisität uns direkt in die Augen.

Zur Reziprozität

In dem lukanischen Text sind bezüglich Jesu der Gestaltener und der Gestalter nur additiv reziprok, während in Joh. 1,14 beide Bereiche organisch miteinander verbunden sind.